Tiroler Arbeiterzeitung
11 Nr. 123, Oktober 2019 THEMA: SOZIALSTAAT S elbst wenn aufgrund des Einsatzes von Arbeiterkammer und Gewerkschaften der Sozial- staat noch sicher ist, bedarf es großer Anstrengungen, damit das auch in Zukunft so bleibt. Denn die Schritte, die unter der türkis- blauen Regierung gesetzt wurden, gehen eindeutig in Richtung Sozialabbau. Die AK fordert daher die Sicherung des Sozialstaats statt weiterer Steuergeschenke für Wirtschafts- und Industrielobbys sowie Reiche. Dazu braucht es jedoch eine echte Steuerreform, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich entlastet und die fair und solide gegen- finanziert ist. Ohne Tricks und Marketing-Gags. Es braucht eine EU-weite Min- destgewinnsteuer von 30 Prozent sowie den entschlossenen Kampf gegen Steuervermeidung- und Steuerhinterziehung, auch in Rich- tung internationaler Großkonzerne. Denn es braucht faire Beiträge von Unternehmen, um die soziale Sicherheit zu gewährleisten. Eine Wertschöpfungsabgabe, also die Ausweitung der Bemessungsgrund- lage der Dienstgeber-Sozialabga- ben auf die gesamte Wertschöp- fung statt nur auf die Lohnsumme, wäre ein adäquates Mittel. Faire Finanzierung statt Kürzungen So schützt uns der Sozialstaat Erfolgsmodell. Der österreichische Sozialstaat garantiert Sicherheit in allen Lebenslagen und allen Lebensphasen. Die Kritik an ihm und seine Rückgestaltung durch Türkis-Blau sind ein Alarmzeichen, vor allem für die Arbeitnehmer. D er Befund ist mehr als ernüchternd: Von „Sys- temversagen“ ist da die Rede und von sinkender Lebenserwartung. Zwar (noch) nicht in Österreich, aber in einer der wichtigsten Industrienati- onen der Welt, den Vereinigten Staaten. Der Träger des alterna- tiven Wirtschaftsnobelpreises, der US-Amerikaner Joseph Stiglitz, kennt die Probleme, mit denen sein Heimatland zu kämpfen hat. Überbordender Neoliberalismus höhlte den dort ohnehin brü- chigen Sozialstaat aus, niederge- schlagen hat sich das auch in der Gesundheitsversorgung. Profitie- ren würden vom nicht-staatlichen System Pharmaindustrie und pri- vate Krankenversicherungen, so Stiglitz. Die Menschen können es sich nicht mehr leisten, krank zu sein. Ein Horrorszenario, auch für Österreich? Noch funktioniert der Sozial- staat, auch wenn die Angriffe auf ihn unter der türkis-blauen Regie- rung massiv waren. Zerschlagung des Kranken- und Unfallsystems, Auflösen der Länder-Gesund- heitskassen, Abschaffung der Notstandshilfe, „Umwandlung“ der Mindestsicherung in eine Sozialhilfe NEU – dies sind nur einige der Angriffe auf ein aus- gefeiltes und intaktes sozialstaat- liches System. Doch wie funkti- oniert ein Sozialstaat eigentlich und warum ist es so wichtig, dass es ihn gibt? AK FORDERUNG Lebenslange Leistungen. Die ka- tastrophalen Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen der Arbei- terschaft führten bereits 1888/89 zu ersten Gesetzen zur sozialen Absicherung von Arbeiterinnen und Arbeitern – eine Unfall- und Krankenversicherung wurde ein- geführt. Nach Ende der Monarchie 1918 wurde eine Reihe wichtiger Gesetze beschlossen, darunter der 8-Stunden-Tag (1918/19) und die Arbeitslosenversicherung (1920). Im selben Jahr wurden auch die Arbeiterkammern geschaffen, die bis heute – mit Ausnahme in der Zeit desAustrofaschismus und Na- tionalsozialismus – für die Rechte der Arbeitnehmer eintreten. Von der Einführung einer Unfall- und Krankenversicherung bis hin zur sozialpartnerschaftlichen Einigung auf 1.500 Euro kollektivvertrag- lichen Mindestlohn in allen Bran- chen (2017) war es ein langerWeg. Mittlerweile sichern die Errungen- schaften des Sozialstaats unser Le- ben von Geburt bis ins hohe Alter (siehe Infokästen oben und unten). Schutz vor Armut. Auch wenn der Sozialstaat vielfach kritisiert wird, ist es Fakt, dass auch Öster- reich ohne Sozialleistungen in eine enorme Schieflage geraten würde. Denn die ständig steigenden Le- benshaltungskosten bei im Ver- hältnis niedrigen Löhnen führen zu einem immer höheren Druck auf die Arbeitnehmer. Gerade sie aber finanzieren den Löwenanteil der So z i a l l e i s - tungen. Die Statistik der EU über Ein- kommen und Lebensbedin- gungen zeigt, dass in Österreich 44 Prozent der in Privathaushalten lebenden Personen ohne Sozial- transfers armutsgefährdet wären. Auch für Tirol sieht die Lage – in absoluten Zahlen – nicht besser aus: Laut aktueller Armutsstudie sind 112.588 Personen bzw. 15 Prozent aller in Tirol Wohnhaften armutsgefährdet. Mehr als 34.000 sogar, obwohl sie Vollzeit arbei- ten (Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2016). Ohne Sozialleistungen würde auch hier die Armutsge- fährdung enorm steigen. Und ohne sie würde das US-System auch in Österreich Niederschlag finden. Denn um großen Unternehmen Millionen zu ersparen, wird auch hier die Finanzierung der sozialen Sicherheit nach und nach ausge- höhlt. Arbeitnehmer sollen privat für ihre soziale Sicherheit sorgen. Doch wer könnte sich eine solche Sicherheit leisten? Das untaug- liche US-System würde damit auch in Österreich Wirklichkeit. Mit allen Folgen für die Gesund- heit der Menschen… Das Weiterbildungsgeld ermöglicht im Rahmen einer Bildungskarenz finanzielle Unterstützung für Weiterbildung. Aktive Arbeitsmarktpolitik bietet Weiterbildungsmöglich- keiten und erleichtert Umstiege und Wiederein- stieg in den Beruf. Unfall- und Krankenversicherung garantieren medizinische Versor- gung und ersetzen im Notfall auch das Einkommen. Medikamente und Heilbehelfe werden bereitge- stellt. Rehabilitation und Kurauf- enthalte stellen die Arbeitsfähig- keit wieder her und erhalten sie. Vorsorge- und Präventionsmaß- nahmen sichern für die Zukunft ab. Die Insolvenzentgeltsicherung bezahlt Löhne, die bei Zahlungs- unfähigkeit des Unternehmens nicht mehr geltend gemacht wer- den könnten. Arbeiterkammern und Gewerkschaften verhelfen zu Recht und finanziellen Ansprü- chen. Das Arbeitslosengeld bietet finanzielle Absicherung während Zeiten der Arbeitslosigkeit. Im Alter ersetzt die Alterspension das Einkommen. Bei Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit gibt es die Invaliditäts- und Berufsunfähig- keitspension , für Angehörige Verstor- bener die Hinterbliebenenpension . Neben Pflegeeinrichtungen sorgt das Pflegegeld für finanziellen Ausgleich bei Bedarf. Für finanzielle Härtefälle gibt es die Ausgleichszulage . © Pikselstock/ stock.adobe.com © Robert Przybysz/ stock.adobe.com © Monkey Business/ stock.adobe.com © Sebastiano Fancellu/ stock.adobe.com © pressmaster/ stock.adobe.com © Elisabeth Rawald/ stock.adobe.com © Halfpoint/ stock.adobe.com © RioPatuca Images /stock.adobe.com Wochengeld und Kinderbetreu- ungsgeld treten unmittelbar vor und nach der Geburt an die Stelle des Einkommens und bieten so finanzielle Absicherung in der Karenz. Die Familienbeihilfe bietet darüber hinaus finanzielle Unter- stützung für Familien mit Kindern. Der Mutter-Kind-Pass bietet kostenlos die beste medizinische Versorgung des Nachwuchses. Auch danach sind Familienange- hörige mitversichert und damit auch bestens versorgt. Die Anrech- nung von Kindererziehungszeiten mildert finanzielle Härten im Alter. Hochwertige Kinderbe- treuungseinrichtungen sorgen für die Betreuung und Bildung der Kleinsten. Karenz- und Elternteilzeit- regelungen ermöglichen Eltern, selbst für ihre Kinder da zu sein. Bildung ist wertvoll – Gehälter von Lehrern, Unterrichtsmate- rialien, Schulgebäude u.v.m. müssen finanziert werden. Darü- ber hinaus gibt es die Schüler- und Lehrlingsfreifahrt und gratis Schulbücher . Für viele Kinder gibt es z. B. auch ein Schulstartgeld . Hochwertige Universi- täten sorgen für Inno- vationen und Bildung auf höchstem Niveau. Die Studienbeihilfe und Stipendien bieten vielen finanzielle Unterstützung während eines Studiums. Der gemeinnützige und genossenschaftliche Wohnungssektor stellt erschwinglichen Wohnraum bereit. Für zusätzliche finan- zielle Unterstützung vieler Mieterinnen und Mieter gibt es die Wohnbeihilfe . Wohnen, soz. Ausgrenzung Hinterbliebene Alter Krankheit, Gesundheit Familie, Kinder Invaliditität, Gebrechen Arbeitslosigkeit Sozialausgaben 2017 (Struktur im Jahr 2017, Anteile in %) 44,2 % 26,1 % 9,5 % 6,2 % 5,8 % 5,7 % 2,6 % Quelle: Statistik Austria © Khorzhevska /stock.adobe.com © famveldman /stock.adobe.com © Contrastwerkstatt /stock.adobe.com © Syda Productions /stock.adobe.com © Syda Productions /stock.adobe.com © nd3000 /stock.adobe.com © Jacob Lund /stock.adobe.com © goodluz /stock.adobe.com © KZenon /stock.adobe.com ➧ ➧ ➧ ➧ ➧ ➧ ➧ ➧
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