Wirtschafts- und sozialstatistische Informationen 2019 I
Seite 10 WISO nicht alle 20 Meter ein Bettler sitzt. Was man für ein öffentliches Gut hält, ist auch eine Frage der Weltan- schauung und der politischen Position. Eine breitere Definition des Begriffs stuft auch Sozialstaatlichkeit als öffentliches Gut ein. Neoliberale sehen das sehr eng, vor allem innere und äußere Sicherheit sowie das Rechtssystem werden von ihnen als öffentliche Güter betrachtet. Alle andere sollte aus ihrer Sicht dem Markt überlassen werden. Der Staat spielt mit seinen finanziellen und sons- tigen Leistungen oft eine wichtige Rolle für die Haushalte, z. Bsp. durch die Auszahlung der Fa- milienbeihilfe. Trotzdem scheint der Staat in den letzten Jahren in Legitimationsprobleme geraten zu sein, speziell bei Ausgaben für Soziales. Wo- her kommt das Ihrer Ansicht nach? Ich glaube, das ist aus zwei Gründen entstanden. Der erste Grund besteht in der Ausbreitung des neo- liberalen Denkens, zunächst bei den Wirtschafts- wissenschaften und später auch in der Politik. Un- ter dem Einfluss der Neoliberalen veränderte sich die Perspektive auf staatliches Handeln nach dem Motto: Weniger Staat, mehr privat. Neoliberale sind überzeugt, dass der Sozialstaat Leistungsimpul- se hemmen würde und zum Leben in der „sozialen Hängematte“ einlädt. Diese neoliberale Propaganda hat sich in den Lehrplänen der Universitäten und in den Redaktionsstuben der Presse festgesetzt. Hinzu kommt noch, dass unter diese Einflüssen die Sozial- demokratie in den letzten 25 Jahren zunehmend ihre Identität verloren und ihre Rolle als bedingungslose Verfechterin und Verteidigerin des Sozialstaats auf- gegeben hat. Das geschah in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Großbritannien steht etwa Tony Blair für einen solchen Prozess, in Deutschland Gerhard Schröder. Der zweite Grund ist, dass es unter den genannten Bedingungen zu einer tatsächlichen Verschlampung des Sozialstaates gekommen ist. Ein typisches Bei- spiel dafür sind die Hartz-IV-Gesetze in Deutschland. Man war nicht mehr in der Lage, nüchtern zu prüfen, warum die Arbeitslosigkeit eigentlich angestiegen war. Unter dem Einfluss der neoliberalen These, die Arbeitslosen wären letzten Endes selbst schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, weil sie zu teuer seien oder zu wenig flexibel, wurde die Arbeitslosenunterstützung in ihrer alten Form abgeschafft. Gleichzeitig entstand eine Vielzahl prekärer Arbeits- verhältnisse. Die dadurch Deklassierten und Verunsi- cherten sehen, dass das Sicherheitsnetz nicht mehr Um die richtigen Schlüsse aus Krisen zu ziehen, braucht die Politik neue „Navigationskarten“, an denen sie sich orientieren kann.
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