Wirtschafts- und sozialstatistische Informationen 2019 I

WISO Seite 11 hält. Daher steigt die Wut und Verbitterung gegen- über dem Sozialstaat, da er sie nicht mehr ausrei- chend schützt. Der Konsens darüber, welche Aufgaben der Staat in der sozialen Wohlfahrt übernehmen sollte, scheint zerbrochen zu sein. Ich würde nicht das Wort „zerbrochen“ verwenden, aber der Konsens über den Sozialstaat ist „zerbrö- selt“. Dieser Prozess zieht sich mittlerweile über 50 Jahre hin. Die neoliberalen Denker haben es her- vorragend verstanden, langfristig eine Kampagne zu organisieren, mit dem Ziel, die wirtschaftswissen- schaftlichen Theorien zu ändern. Dadurch veränder- te sich auch die Ausbildung der Studierenden, wurde die Haltung der Journalistinnen und Journalisten be- einflusst und letztlich die Politik selbst umgestaltet. Paradoxerweise schafft die neoliberale Politik durch die von ihr ausgelösten wirtschaftlichen und sozialen Krisen selbst jene Probleme, die später als Vorwand benutzt werden, um neoliberale Vorhaben verschärft voranzutreiben. Sie sprechen in Ihrem Buch in diesem Zusam- menhang von der „Therapie als Teil der Krank- heit“. Ja, genau. Der erste Schritt in diese Richtung war die Liberalisierung der Finanzmärkte. Diese löste Krisen und Rezessionen aus und ließ die Arbeitslosigkeit ansteigen. Im zweiten Schritt wurden diese Krisen als Widerlegung der Vollbeschäftigungspolitik und des Keynesianismus gedeutet. Ich nenne das den neoliberalen Wechselschritt. Kommen wir nochmals auf die Rolle des Staates zu sprechen. Gerade im Bereich der gesamtwirt- schaftlichen Steuerung scheinen die National- staaten durch internationale Verflechtungen und Regelwerke eingeschränkte Handlungsmöglich- keiten zu haben. Besonders innerhalb der EU, wo etwa der Europäische Fiskalpakt gilt, gibt es enge Vorgaben, von denen nicht ohne weiteres abgegangen werden kann. Wo kann der Staat Handlungsmöglichkeiten gewinnen? Ich glaube, dass es durchaus Handlungsspielräume gibt. Allerdings ist es richtig, dass die derzeitigen Regelwerke in der Union diese begrenzen. Mit ih- nen wurde ja genau das Ziel verfolgt, dass einzelne Staaten nicht mehr in Sachen Sozialstaatlichkeit ei- gene Wege beschreiten können, so lange, aus Sicht der Union, Budgetprobleme bestehen. Diese Prob- leme können aber nicht gelöst werden, solange ein System dominiert, das ich als „Finanzkapitalismus“ bezeichne. Im Finanzkapitalismus ist das reale Un- ternehmertum schlechter gestellt als Finanzspeku- lationen und deswegen wird zu wenig in die Real- wirtschaft investiert. National gäbe es im Bereich der Steuerpolitik durchaus Möglichkeiten. Staaten könnten beispielsweise mittels Vermögens- und Erb- schaftssteuern zusätzliche Mittel für Sozialausga- ben und für die Stimulation der Wirtschaft lukrieren. Die „Therapie als Teil der Krankheit“: Die durch neoliberale Politik ausgelösten Probleme dienen als Vorwand, um neoliberale Vorhaben verschärft voranzutreiben.

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