Wirtschafts- und sozialstatistische Informationen 2019 I
Seite 12 WISO Aber diese Möglichkeiten sind beschränkt, weil die neoliberale Weltanschauung Politik und Medien so beherrscht, dass eine Regierung, die das einführen möchte, stark unter Druck geraten würde. Auf der Ebene der Europäischen Union würde prinzi- piell ein großer Handlungsspielraum bestehen. Hier könnte man meiner Ansicht nach fast alles machen. Auch die angeblich so übermächtigen Finanzmärkte könnte man leicht an die Kandare nehmen. Die Vor- aussetzung dafür ist aber, dass man einen Plan hat und für diesen braucht man konkrete Diagnosen zu den Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten. Daran fehlt es derzeit am meisten. Im Hinblick auf die Diagnose sprechen Sie auch von falschen „Navigationskarten.“ Inwieweit sehen Sie innerhalb der Ökonomie als wissen- schaftlicher Disziplin Potenziale für ein Umden- ken? Die Grundstrategie der neoliberalen Gegenrevolution gegen Keynesianismus und Vollbeschäftigungspoli- tik kann man mit einem – fast wörtlichen – Zitat ihres Vordenkers Friedrich A. von Hayek so zusammenfas- sen: Wenn es einmal gelungen ist, die Intellektuellen auf unsere Seite zu ziehen, dann verändern sich die Verhältnisse fast von selbst. Eine kluge Überlegung, denn wenn die eigene Weltanschauung die Lehrbü- cher und den wissenschaftlichen Bereich dominiert, dann pflanzt sie sich in alle anderen Bereiche fort. In den Wirtschaftswissenschaften haben sich Para- digmenwechsel, also die Ablösung alter Weltsichten durch neue, eigentlich nur durch sehr große Krisen ergeben. Der Börsenkrach von 1873 führte zu einer fast 20 Jahre anhaltenden wirtschaftlichen Depressi- on bzw. Stagnation. In dieser Zeit entstand auch die Arbeiterbewegung. Aber nur deshalb, weil mit den Schriften von Marx und Engels eine neue Navigati- onskarte bereitstand, mit welcher die Krise analysiert werden konnte. Auf Basis dieser Navigationskarte konnten sich die Betroffenen der Wirtschaftskrise organisieren und beginnen, ihre Interessen zu ver- treten. In dieser Zeit wurde etwa in Deutschland die „Sozialistische Arbeiterpartei“ (1875) gegründet und die Gewerkschaftsbewegung breitete sich aus. Nach dem großen Börsenkrach von 1929 sah man eine ähnliche Entwicklung, allerdings mit katastro- phalen Folgen. In der auf den Börsencrash folgenden Weltwirtschaftskrise verstanden es die Nationalsozi- alisten die Gefühle der Verbitterten und Ängstlichen auszunutzen. Den Arbeiterparteien gelang keine ausreichende Mobilisierung. Ein positives Gegenbei- spiel aus dieser Zeit ist aber US- Präsident Franklin D. Roosevelt, dem es mit dem „New Deal“, einem umfassenden Beschäftigungs- und Konjunkturpaket, gelang, aus der Krise zu kommen. Die derzeitige Phase in der Geschichte des Kapitalis- mus ist deshalb einzigartig, weil es einer wirtschafts- wissenschaftlichen Weltanschauung noch nie gelun- gen ist, so lange und so umfassend zu dominieren wie dem Neoliberalismus. Daher ist das Hauptanlie- gen meines Buches, Aufklärung zu leisten und einen Weg zu zeigen, der aus Europa aus der derzeitigen Krise führt. Denn es braucht eine neue Navigations- karte, auf die im Fall der nächsten Krise zurückgegrif- fen werden kann. Damit Lösungen gewählt werden, die nicht wieder Teil der nächsten Krise sind. Herr Schulmeister, vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Armin Erger.
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