Tiroler Arbeiterzeitung - page 4

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THEMA:
Soziales & Gerechtigkeit
Armut.
1.031 Euro monatlich für einen Einpersonenhaushalt. Für jede weitere Person
kommen 515 Euro dazu, für jedes Kind 309 Euro. Ist das wirklich genug zum Leben?
L
assen sich Not und soziale Aus-
grenzung an solchen Grenzen
überhaupt festmachen? Der
Koordinator des AK Unterstützungs-
fonds, Dr. Lothar Müller, und sein
Team, sind täglich mit der Not und
den materiellen Problemen zahlreicher
Tirolerinnen und Tiroler konfrontiert
und analysieren die Situation.
Mit 1.031 Euro sind Sie über der
Armutsgefährdungsschwelle.
Diese
Schwelle bezieht sich auf die EU-
Studie SILC, die vom Land gerne als
Indikator für den hohen Wohlstand
in Tirol herangezogen wird und von
manchen Medien unkritisch reflektiert
wird. Stellen Sie sich vor: Mit 1.031
Euro monatlich sollte es keine Pro-
bleme in Tirol geben. Sie dürften die
Miete, die Betriebskosten und aufge-
nommene Kredite regelmäßig bedie-
nen können. Sie hätten kein Problem
mit steigenden Lebensmittelpreisen,
mit unerwarteten Ausgaben wie einer
kaputten Waschmaschine fertig wer-
den, einmal jährlich vielleicht einen
kleinen Urlaub machen können. Und
auch die Heizkosten sind finanzierbar.
Stand 2010. Sie müssen also jetzt drei,
vier Prozent dazurechnen.
Die Studie gilt für Österreich. Und
damit auch für Tirol. Und sie folgert,
dass etwa 1,4 Millionen Österreicher
unter oder knapp an dieser Einkom-
mensgrenze leben. Das wären in Tirol
weit über 100.000 Mitbürger. Mit ih-
ren Kindern! Auf Prozentspielereien,
wie dies einige in der Wirtschaftskam-
mer gerne betreiben, lassen wir uns gar
nicht ein. Wir wären schon froh, wenn
die sich um die etwa zwölf Prozent der
Selbständigen kümmern würden, die
laut dieser Studie auch arm oder ar-
mutsgefährdet sind.
Fünf „Gesichter“
gefährdeter Tiroler
• Die Kinder der alleinstehenden Ver-
käuferin sind aus dem Haus. Sie ver-
dient etwa 1.200 Euro. Die Miete
kostet inklusive Betriebskosten 760
Euro. Natürlich sucht sie längst in ih-
rer Unterländer Heimatgemeinde und
der Umgebung eine billigere Woh-
nung. Wahrscheinlich muss sie ihre
Heimatgemeinde verlassen. Aber jetzt,
ganz aktuell, stellt sich eine Frage: Wie
soll sie die Betriebs- und Heizkosten-
nachforderung von 780 Euro bezah-
len?
• Die Mutter mit einer 16Jährigen
Tochter hat für beide ein Einkommen
von 780 Euro. Inklusive Unterhalt
und Mietzinsbeihilfe. Haben müsste
sie 1.547 Euro! Die Tochter will jetzt
den Hauptschulabschluss nachma-
chen. Das heißt: Kampf um jeden
Euro.
• Sie lebt jetzt als Pensionistin nach dem
Firmenkonkurs ihres Mannes in einer
Kleinstwohnung. Hat leider damals
viel „mitunterschrieben“, deshalb Pri-
vatkonkurs. Pension 660 Euro, Miet-
zinsbeihilfe 150 Euro. Woher soll sie
das Geld für den Ersatz für die kaputt-
gegangene Waschmaschine nehmen?
• Eine alleinerziehende Mutter mit zwei
Kindern. Zweimal Mindestsicherung
und hohe Pflegestufe. Von dieser blei-
ben für die Wochenendbetreuung 280
Euro. Insgesamt etwa 1.380 Euro für
drei Personen im Haushalt. Und wie
soll sie die Windelrechnung, die jetzt
über 700 Euro beträgt, zahlen?
Alarmierend.
Armut und soziale Not wachsen in den Bereich der „Mittelverdiener“ hinein.
broschüre
Routenplan mit
Sozial-Infos
D
er
Sozialroutenplan
Inns-
bruck ist eine vom Verein
unicum:mensch
herausgegebene
Broschüre für Menschen in finanzi-
ellen und sozialen Notlagen, insbe-
sondere für Frauen und Familien.
Die Broschüre möchte Menschen
in Notlagen helfen, Schwierigkeiten
zu bewältigen und Wege aus der
Krise zu finden. Sie richtet sich an
Betroffene ebenso wie an Personen,
die in ihrer beruflichen oder ehren-
amtlichen Arbeit beratend tätig sind.
Der Sozialroutenplan informiert Be-
troffene, wo sie in welcher Situation
beraten werden, wie die Behörden
sie unterstützen können und wer im
Notfall helfen kann.
Kontakt:
Mag. Elisabeth Kapferer,
Haus der Begegnung, Rennweg 12,
6020 Innsbruck, Tel 0512/587869-
18,
Soziale Not
im Land wächst
Große Vermögen,
niedrige Steuern
Fast
15.000 Tiroler
sind ohne Job
Riesengefälle.
Zehn Prozent besitzen zwei
Drittel des heimischen Privatvermögens.
AMS-Bilanz.
Die Langzeitarbeitslosigkeit
stieg in Tirol um dramatische 31 Prozent.
D
as private Vermögen beträgt in
Österreich mehr als 1.300 Mil-
liarden Euro: Dieses enorme
Vermögen ist noch ungleicher verteilt
als die Einkommen. Die reichsten 10 %
der Österreicher besitzen mehr als zwei
Drittel davon. Allein das oberste Pro-
zent besitzt knapp 34 %. Das ist mehr
Vermögen als 90 % der Bevölkerung
haben, die zusammen nur über 31,7 %
verfügen. Bezogen auf die Bevölkerung
hat Österreich die meisten Superreichen
in der EU. Die reichsten 297 österrei-
chischen Familien – das ist ein Zehntau-
sendstel der Haushalte – besaßen 2010
jeweils ein privates Finanzvermögen von
mehr als 80 Millionen Euro.
Die enorme Konzentration der Ver-
mögen bringt negative Auswirkungen
auf den sozialen Zusammenhalt und die
Gesamtwirtschaft mit sich. Um die Fol-
gekosten der von Spekulanten ausgelö-
sten Finanzkrise abzubauen, werden in
ganz Europa Sparpakete geschnürt, de-
ren Lasten überwiegend Arbeitnehmer,
Pensionisten und sozial Benachteiligte
tragen sollen. Österreichs Millionäre
sind hingegen 2010 um 20 Milliarden
Euro reicher geworden. Dennoch sind
Kapitalerträge auch in Millionenhöhe
nur mit 25 % besteuert. Im Vergleich
dazu liegt der niedrigste Lohnsteuer-
satz für Klein- und Mittelverdiener bei
36,5 %! Steuern auf Vermögen tragen
in Österreich nur 1,3 % zum gesamten
Steueraufkommen bei. Damit zählen
wir zu den Schlusslichtern unter allen
Industrie­ländern.
<<
D
ie angespannte Wirtschafts-
lage in Europa wirkt sich
immer stärker auf den öster-
reichischen Arbeitsmarkt aus: Ende
August hatten in Österreich 289.223
Personen keinen Job, das waren um 5,8
%mehr als 2011. Die Zahl der Arbeits-
losen ist gegenüber dem Vorjahr um
6,1 % auf 232.661 gestiegen. Gleich-
zeitig befanden sich 56.562 Personen
in Schulungen des Arbeitsmarktservice
(AMS), 4,3 % mehr als vor einem Jahr.
In Tirol stieg die Zahl der vorgemerk-
ten Arbeitslosen im Vergleich zum
Vorjahresmonat im August um 4,7 %
oder 623 Personen auf 13.868. 1.448
Menschen befanden sich in AMS-
Schulungen.
Nach Wirtschaftsabschnitten be-
trachtet, sind die stärksten Anstiege in
Tirol in der Beherbergung und Gas-
tronomie mit + 7,3 % zu verzeichnen,
gefolgt vom Handel (inklusive Kfz-
Branche) mit + 5,3 % und dem Bauge-
werbe mit +8,6 %. Mehr Beschäftigte
(+7,5 %) gab es hingegen im Dienst-
leistungssektor (ohne Lieferungen). Bis
auf die Altersgruppe der 15- bis 19Jäh-
rigen (-8,1 %) stieg die Arbeitslosigkeit
in allen Altersgruppen. Bezirksweise
der stärkste Anstieg in Tirol war in
Innsbruck mit + 6,5 %, Kufstein und
Landeck mit jeweils + 5,8 % zu ver-
zeichnen. Dramatisch ist laut AMS die
Situation bei den Langzeitarbeitslosen:
In Tirol stieg die Zahl der Personen, die
länger als ein Jahr vorgemerkt sind, um
31,7 %.(Österreich: + 20,6 %).
<<
Vermögen.
Wer viel hat, dem wird
noch mehr gegeben.
Dramatisch
ist die Situation vor allem
bei Langzeitarbeitslosen.
Nr. 43, September 2012
• Verheiratet, insgesamt vier Kinder.
Eines noch minderjährig (Hauptschu-
le). Ein volljähriges Kind ist nach Ent-
zug in die Familie zurückgekommen,
Einkommen: Null. Für den Vater gibt
es die „Arbeitslose“ (800 Euro), die
Familienbeihilfe und ein Pflegegeld
für die Mutter (150 Euro). Also etwa
1.100 Euro zusammen. Mietzinsbei-
hilfe gibt es keine, weil sie erst ein Jahr
in der Gemeinde wohnen.
Ein Hauptthema:
Mietzinsbeihilfe
Das sind fünf der etwa 2.500 erledigten
Ansuchen an den Unterstützungsfonds
der AK Tirol. Vielen dieser Betroffenen
wurde in engster Zusammenarbeit mit
DOWAS, Caritas, Delogierungspräven-
tion bei der Landesvolksanwaltschaft,
Schulpsychologie, Mindestsicherung,
Netzwerk Tirol Hilft usw. geholfen.
„Bei sehr vielen Anträgen spielt die
fehlende Mietzinsbeihilfe eine ganz we-
sentliche Rolle“, so AK Präsident Erwin
Zangerl. „Diese Beihilfe muss genau-
so wie die Wohnbauförderung sofort
einsetzen, das fordern wir schon seit
langem. Einzubeziehen sind auch fixe
Betriebskostenanteile! An den Gemein-
den wird es nicht liegen, wenn endlich
die Agrargemeinschaften das Gemein-
degut zurückgeben. Und auch das
Land könnte durch eine entsprechende
Neuwidmung des Landeskulturfonds,
bisher ein Privileg der Landwirtschafts-
kammer, einiges beitragen.“
Einsatz für die Schwachen
Auch für den Moraltheologen Lothar
Müller, zuständig für den Unterstüt-
zungsfonds der AK Tirol, gibt es eine
klare Linie: „Wir fragen die Landtags-
parteien: Was tut ihr für dieses Fünftel
der Tirolerinnen und Tiroler? Für jene,
die arm oder armutsgefährdet sind. Das
Problem zieht sich durch alle Bevölke-
rungsschichten. Die Betroffenen wer-
den bei der Wahl und auch sonst nicht
länger schweigen.“
AK Präsident Zangerl führt noch ein
weiteres Kriterium aus: „Wir werden
alle wahlwerbenden Gruppen im Land
an ihre Versprechen für die Menschen
am finanziellen Abgrund erinnern und
von ihnen klare Aussagen und Zusagen
einfordern.“
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Foto: LaurentHamels/Fotolia.de
Foto:CDron/Fotolia.de
Kontakt.
AK-Unterstützungsfonds
0800/22 55 22 – 1107 von Mo
bis Do zwischen 9 und 11 Uhr.
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