Previous Page  35 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 35 / 80 Next Page
Page Background

WISO Seite 35

Verteilung in der historischen Perspektive

Was sind die Aussagen Pikettys? Ausgehend von-

Zeitreihen, die sich aus einer Vielzahl von histori-

schen Quellen, wie Steuerdaten und Aufzeichnun-

gen über Erbschaften speisen, attestiert Piketty, dass

sich Einkommen und Vermögen im Laufe des 21.

Jahrhunderts noch stärker konzentrieren könnten.

Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung könnte

auf ein Niveau zusteuern, wie es in Europa und den

USA im 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ers-

ten Weltkrieges geherrscht hatte.

Piketty sieht eine „fundamentale Kraft der Diver-

genz“ am Werk, welche starken Druck hin zu einer

immer stärkeren Konzentration der Vermögenswerte

ausübt.

2

Diese „fundamentale Kraft“ in Richtung zu-

nehmender Ungleichheit lässt sich auf die Formel r

> g bringen. „r“ steht dabei für die durchschnittliche

jährliche Kapitalrendite (Profite, Dividenden, Zin-

sen, Mieteinnahmen, usw.) und „g“ für die jährliche

Wachstumsrate der Wirtschaft.

Die Formel sagt aus, dass im historischen Vergleich

die Renditen für Kapitalwerte, so gut wie immer über

der allgemeinen Wachstumsrate der Volkswirtschaf-

ten lagen. Das brachte mit sich, dass die Besitzerin-

nen und Besitzer von Kapital mit der Zeit ständig grö-

ßer werdende Vermögen an sich ziehen konnten und

ererbte und veranlagte Vermögen stärker wuchsen

als die Einkommen aus Arbeit bzw. stärker als der

gesamte Output der Volkswirtschaft.

Wie sich eine Gesellschaft die eine solche Entwick-

lung lange durchlaufen hat, aus der Perspektive der

Vermögensverteilung präsentiert, zeigten, laut Piket-

ty, die europäischen Staaten vor dem Ausbruch des

Ersten Weltkrieges (und mit Einschränkungen die

Vereinigten Staaten). Etwa 90% der aggregierten

Vermögen befanden sich in den Händen der reichs-

ten 10% der Gesellschaft. Das reichste Prozent (Top

1%) vereinigte 60% des gesamten aggregierten Ver-

mögens auf sich.

3

Der Nährboden für diese extreme

Ungleichverteilung war eine lange Periode sehr ge-

ringen Wirtschaftswachstums und äußerst stabiler

monetärer Bedingungen.

Aus einem Zustand fast völliger Stagnation - von

1700 bis 1820 betrug das durchschnittliche jähr-

liche Wirtschaftswachstum nur 0,1% - zog das

Wirtschaftswachstum zwar bedingt durch die groß-

flächige Durchsetzung der technologischen Errun-

genschaften der Industriellen Revolution an, erreich-

te aber auch für die Jahre von 1820 bis 1913 nur

einen Durchschnittswert von 0,9%.

4

Kennzeichnend

für die genannten Zeitperioden war die ausgeprägte

Preisstabilität - Piketty schätzt die jährlichen durch-

schnittlichen Inflationsraten für den Zeitraum 1700

– 1913 auf maximal 0,2 – 0,3% ein – was Vermö-

gensverluste durch Inflation daher weitgehend aus-

schloss.

5

In der Tat türmten sich die privaten Vermögen mit der

Zeit immer mehr auf, um zum Ausbruch des Ersten

Weltkrieges das jährlichen Nationalprodukt (Daten

für Deutschland, Frankreich, Großbritannien) um das

6-7fache zu übertreffen. Durch die katastrophalen

Ereignisse der Weltwirtschaftskrise und der beiden

Weltkriege wurde dieses Muster zunehmender pri-

vater Vermögensakkumulation jedoch durchbrochen.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die priva-

ten Vermögen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung

auf 150-300% gesunken.

6

Der Rückgang der Privat-

vermögen war direkten Kriegsschäden, dem Ausfall

von Investitionen, aber auch stärkeren Preis- und

Kapitalkontrollen (z.B. bei Mieten) in der Nachkriegs-

zeit geschuldet. Das Auftreten hoher Inflation, v.a.

während der Weltwirtschaftskrise in der Zwischen-

kriegszeit, aber auch nach dem Ende des Zweiten

Weltkrieges, sorgte für eine weitgehende Dämpfung

von Vermögenskonzentrationen.

cc Armin Erger

Doppelt so dick wie Harry Potter: Thomas Pikettys „Capital

in the 21st Centruy“. Weggezaubert kann die zunehmend

Ungleichverteilung allerdings nicht so einfach werden.

2

Piketty (2014 I), S. 25

3

vgl. Piketty (2014 II), Folie 18

4

vgl. Piketty (2014 I), S. 93

5

vgl. ebda. S. 103

6

vgl. ebda. S. 26