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Die Nachkriegszeit brach-
te hohe Wachstumsraten
mit sich (in Europa betrug
das durchschnittliche jähr-
licheWirtschaftswachstum
von 1950 -1980 3,4%), da
die europäischen Staaten
nach dem Krieg im großen
Stil Investitionen nachho-
len mussten und auch in
Europa Massenkonsum-
gesellschaften wie in den
USA entstanden, was die
gesamtwi r t schaf t l i che
Nachfrage erhöhte.
In diesen Jahrzehnten, die
auch prägend für die Men-
talität vieler heute aktiver
politischen Gestalterinnen
und Gestalter war, wurde
Wirtschaftswachstum auch
erstmals eine „fühlbare und unverkennbare Realität“
für die breite Masse der Menschen in den westlichen
Gesellschaften.
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Hohes Wachstum, argumentiert
Piketty, brächte Möglichkeiten sozialer Mobilität mit
sich und erzeuge durch den gesellschaftlichen Wan-
del auch eine hohe Nachfrage nach neuem Know-
how, verschiedensten Ausbildungen und Skillsets.
Begleitet von entsprechenden bildungspolitischen
Maßnahmen wäre diese Verbreitung von Wissen und
Können in einem Umfeld höheren Wirtschaftswachs-
tums die bedeutendste „Kraft der Konvergenz“, hin
zu einer gleicheren Verteilung von Vermögenswerten
und Einkommen.
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Verhältnisse wie vor mehr als 100 Jahren?
Aber, wie Piketty betont, die großen Vermögen erle-
ben ein „Comeback“. Ausgelöst wird dieses Come-
back durch die Rückkehr eines Umfelds geringen
Wirtschaftswachstums, das höhere Vermögenskon-
zentrationen begünstigt. Geringe Wachstumsraten in
den großen westlichen Volkswirtschaften, ein Steu-
erwettbewerb nach unten, um Kapital anzulocken
und der technologische Fortschritt begünstigen Kapi-
taleinkünfte. Die Kapitalrenditen („r“) übertreffen das
Wirtschaftswachstum und sorgen damit erneut für
Divergenzen in der Vermögensverteilung.
In der Tat zeigt sich, dass die privaten Vermögensbe-
stände seit den 1980er Jahren im Vergleich zum BIP
ansteigen und, sollte dieser Trend anhalten, inner-
halb weniger Jahre bzw. Jahrzehnte wieder ein Ni-
veau erreichen, wie es vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges hatten. Piketty prognostiziert eine Rück-
kehr zu einem Zustand eines „patrimonialen Kapi-
talismus“ in dem (vererbte) Vermögen der zentrale
Einflussfaktor auf die erreichbare Einkommenshöhe
sind. Piketty sieht auch keine „natürliche Kraft“, keine
Gesetzmäßigkeit, die einer solchen Entwicklung ent-
gegenwirken würde. Im Gegenteil, Piketty schätzt die
Kräfte der Divergenz, d.h. hin zu einer zunehmenden
Ungleichverteilung, als deutlich stärker ein, als die
Kräfte der Konvergenz.
Forderung: eine globale Vermögenssteuer
Um diesen Tendenzen zu begegnen, schlägt Piket-
ty – idealtypisch – die Einführung einer progressi-
ven, globalen Kapitalsteuer vor, gekoppelt mit einem
sehr hohen Maß an Transparenz im internationalen
Finanzsystem. Piketty denkt an eine Steuer auf den
gesamten Nettovermögenswert („net worth“) einer
Person. Unter einer Million Euro würde nach dem
Vorschlag von Piketty keine Steuer anfallen, zwi-
schen einer und fünf Millionen wäre 1% fällig, bei
noch größeren Vermögen ein Prozentsatz von 2%.
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Dazu notwendig wäre auch, so eine weitere For-
derung von Piketty, ein automatischer, hochgradig
transparenter Datenaustausch zwischen den Finanz-
verwaltungen und dem Bankensystem.
Das Ziel einer derartigen Vermögensbesteuerung
sieht Piketty nicht in der Staatsfinanzierung, son-
7
ebda. S. 87
8
ebda. S. 22
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vgl. ebda. S. 517
Thomas Piketty attestiert, dass die westlichen Staaten hinsichtlich der Vermögensvertei-
lung wieder auf Verhältnisse wie vor hundert Jahren zusteuern könnten.
cc Socialdemokraterna, bearbeitet