THEMA: BESCHÄFTIGUNG
Wohnkosten belasten Bezieher niedriger Einkommen
W
ie leicht zu vermuten, gibt es
einen engen Zusammenhang zwi-
schen der Branche, in der eine Person
erwerbstätig ist, und der Frage, ob ein
Einkommen unterhalb der Armutsge-
fährdungsgrenze erzielt wird. Von den
beschäftigungsstarken Branchen der Ti-
roler Wirtschaft sticht dabei der Bereich
der Beherbergung und Gastronomie be-
sonders heraus: Rund 31% der in dieser
Branche beschäftigten Personen erreicht
kein Einkommen über der Armuts-
grenze! Auch hier zeigt sich – wie auch
in anderen Branchen – der deutliche
Unterschied zwischen den Einkommen
von Männern und Frauen: Während
18 % der erwerbstätigen Männer mit
einem „Working Poor“-Einkommen
zurechtkommen müssen, sind es bei
den erwerbstätigen Frauen 40 % (gilt für
alle Personen, die mehr als ein halbes
Jahr erwerbstätig waren).
Wie aber sieht es bei Personen
aus, die einer ganzjährigen Tätigkeit
in dieser Branche nachgehen? Zwar
reduziert sich der Anteil der Personen,
deren Einkommen unter der Armuts-
gefährdungsschwelle liegt, dennoch
erzielen 22 % der in Beherbergung und
Gastronomie tätigen Personen trotz
ganzjähriger Tätigkeit kein Einkommen,
das sie über die Armutsschwelle hebt.
Bei den Frauen in der Branche sind es
sogar fast 30 %.
A
ngesichts der hohen Wohnkosten
in Tirol verleihen die Ergebnisse der
jährlichen EU-Studie zur Erfassung der
Einkommen und Lebensbedingungen
(EU-Silc) der „Working Poor“-Diskussion
zusätzliche Brisanz. Denn aus den EU-Silc-
Daten lässt sich schließen, dass die Be-
rücksichtigung der Wohnkosten zu einem
negativen Umverteilungseffekt führt, der
zu Lasten niedriger Einkommensbezieher
geht. So gibt die sogenannte „S80/S20-
Quote“ Auskunft darüber, um wie viel Mal
höher die Summe der Einkommen jener
20 % der Bevölkerung mit dem höchsten
Einkommen ist, gegenüber jenen 20 %
mit dem geringsten Einkommen. Auf der
Ebene der Bruttoeinkommen errechnet
sich im Zeitraum 2013 – 2015 für Tirol
eine S80/S20 Quote von 8,61. Die reichs-
ten 20 % der Tiroler Haushalte verfügten
in dieser Zeit im Durschnitt also um ein
8,61 Mal höheres Bruttoeinkommen als
die ärmsten 20 %. Aufgrund der progres-
siven Besteuerung sinkt diese Quote bei
Betrachtung der Nettoeinkommen auf
6,75. Fließen schlussendlich die Kosten
für das Wohnen mit ein, manifestiert
sich der negative Umverteilungseffekt in
einemAnstieg der S80/S20 Quote auf
8,12. In Tirol – sowie in ganz Österreich
– wird der positive Umverteilungseffekt
des österreichischen Steuersystems somit
unter Berücksichtigung der Wohnkosten
wieder fast gänzlich zunichte gemacht.
„Working Poor“ im Tourismus
BRANCHEN
KOSTENTREIBER WOHNEN
7
Nr. 101, November 2017
Was bedeutet
„Working Poor“?
61 % 1.500
31 %
österr. Staatsbürgerschaft forderten die Sozialpartner
*
kein Einkommen über der Armutsgrenze
der Working Poor besitzt die Euro brutto/Monat Mindestlohn
Bereich Beherbergung und Gastronomie
Zahl der betroffenen Frauen sinkt
(auf 45 %), da Frauen tendenziell
mit Partnern zusammenleben, deren
Einkommen das eigene übersteigt.
Werden schlussendlich noch alle
Sozialtransfers auf Haushaltsebene
in Betracht gezogen, reduziert sich
die Zahl der „Working Poor“ auf
17.727 Personen. Der Frauenanteil
beträgt letztlich 38 %.
Nicht nur Kritiker des Neolibera-
lismus sind gegen Märkte, die sich
selbst überlassen werden, auch die
IHS-Studienautoren finden dazu
klare Worte: „Zentral ist, dass der
Arbeitsmarkt selbst eine wesentlich
höhere Zahl an Armutsgefährdeten
‚produzieren‘ würde, und dass diese
Zahl nachfolgend durch den Haus-
haltskontext und sozialstaatliche
Transfers substanziell reduziert
wird.“ Für AK Präsident Erwin
Zangerl ein weiterer Befund, wie
unsozial freie Märkte funktionieren:
„Da die Situation der Arbeitnehmer
in Tirol bzw. Österreich ohnehin
schon schwierig ist, lässt sich leicht
erahnen, wie viele durch neolibe-
rale Wirtschaftspläne in die Armut
abgleiten werden.“
T
rotz hoher bzw. relativ hoher
Erwerbstätigkeit gelingt es
vielen nicht, über der Armuts-
gefährdungsschwelle zu bleiben.
Dies deutet auch auf einen großen
Niedriglohnsektor hin, in dem die
Einkommen teilweise so gering
sind, dass Armut trotz Arbeit nicht
Einkommen, Branche
und Armutsgefährdung
zeitarbeit droht Armut!
* wird stufenweise bis 2020 umgesetzt
Foto:vectorfusionart
/Fotolia.comLaut EU-Definition werden als „Wor-
king Poor“ jene Personen bezeichnet,
die imHaupterwerbsalter von 18 –
64 Jahren stehen, imVorjahr länger
als sechs Monate Vollzeit oder Teilzeit
erwerbstätig waren und deren äqui-
valisiertes Haushaltseinkommen
*)
60
% des Medianeinkommens (= 50 %
verfügen über ein höheres Einkom-
men, 50 % über ein niedrigeres)
unterschreitet.
Verfügte beispielsweise im Jahr 2014
ein Einpersonenhaushalt über ein
Netto-Jahreseinkommen von unter €
13.926 (Monatsnetto = € 1.161), so
lag damit gemäß der EU-Definition be-
reits eine Armutsgefährdung vor. Bei
einemHaushalt bestehend aus zwei
Erwachsenen und zwei Kindern lag die
Armutsgefährdungsschwelle bereits
bei einemNettojahreseinkommen von
€ 29.245 (Monatsnetto = 2.437).
*)
„Äquivalenzeinkommen“ bedeutet, dass das
imHaushalt verfügbare Einkommen mit fest-
gelegten Gewichtungsfaktoren in Relation zur
Anzahl und demAlter der imHaushalt lebenden
Personen gesetzt wird. Dadurch können verschie-
den zusammengesetzte Haushalte hinsichtlich
ihrer Armutsgefährdung verglichen werden.
„Neoliberales
Wirtschaften mit
Kürzungen von
Sozialleistungen würde
tausende Arbeitnehmer
an den Rand der Armut
führen und viele
darüber hinaus.“
Erwin Zangerl, AK Präsident
vermieden werden kann. Betrach-
tet man die Jahresbruttoeinkom-
men ohne Haushaltsebene und
Sozialleistung, erzielen rund 17 %
der Tirolerinnen und Tiroler ein so
niedriges Einkommen, dass sie zu
den „Working Poor“ zählen. Mit
eklatanten Unterschieden: Der An-
teil von Frauen mit einem „Working
Poor“-Einkommen ist vier Mal hö-
her als der Anteil der Männer.
Dass das Einkommen auch bran-
chenabhängig ist, verwundert nicht.
Besonders der Bereich Beherber-
gung und Gastronomie sticht hier
hervor: 31 % der Personen, die in
dieser Branche beschäftigt sind,
erreichen kein Einkommen über
der Armutsgrenze. Es folgt der Be-
reich der sonstigen wirtschaftlichen
Dienstleistungen (24 %), der Han-
del (20 %) und das Gesundheits-
und Sozialwesen (19 %).
Obwohl das Phänomen der „Wor-
king Poor“ in der politischen Dis-
kussion als Randthema behandelt
wird, birgt es enormen sozialen
Sprengstoff. Denn immer mehr Be-
schäftigte arbeiten zu Niedriglöh-
nen und sind aufgrund von Saison-
schwankungen nicht durchgehend
oder überhaupt atypisch beschäf-
tigt. Dies gilt auch für Tirol, wo ge-
rade jene Branchen, die überdurch-
schnittlich stark ausgeprägt sind,
einen hohen Anteil an „Working
Poor“ hervorbringen.
Auch die Ergebnisse der IHS-
Studie unterstreichen, wie wichtig
die bis 2020 festgelegte stufenwei-
se Anhebung des Mindestlohns auf
1.500 Euro brutto/Monat ist, die die
Sozialpartner kürzlich durchsetzen
konnten. Denn gelingt es nicht, ar-
beitenden Menschen ein Auskom-
men zu ermöglichen, wird der sozi-
ale Friede letztlich kippen.